Seit Kunst und technische Medien sich in diesem beschleunigten Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit verschalten, reichert die Kunst nicht nur die Inhalte der Massenmedien an, sondern erweitert auch bereits vorhandenen Medienrepertoires um kunstspezifische Formate wie den white cube als Ausstellungsarchitektur, fototechnische Reproduktionsverfahren, digitale Manipulationen und nicht zuletzt die Printmedien, in denen Bild und Schrift zu einem emergenten Korpus verschmelzen. Klaus Merkels „hornbook“ könnte diese Reihe um ein originäres Medium ergänzen, wäre es als Format übertragbar. Dass dem nicht so ist, ja, nicht so sein kann, liegt an dem höchst speziellen malerischen Werk, das sich hier in Buchform übersetzt.
Schon in seinen ersten Aufsehen erregenden Ausstellungen Ende 1980er setzte sich Merkel mit der Kontextualität der Malerei auseinander. Bilder in Ausstellungen heben sich, ganz im Sinne Hegels, auf der höheren Ebene der Gesamtpräsentation auf. Den Teilverlust an der Individualität des Einzelwerks kompensiert der Mehrwert des Gesamteindrucks – buchstäblich des Gesamtbilds. Aus dieser Dialektik waren Konsequenzen zu ziehen. Ausstellen hieß für Merkel von da an, Bilder mit Bildern zu malen. Doch dieselbe Aufmerksamkeit wie für die kompositionelle Hängung von Ausstellungen verwandte der Künstler auf das Zusammenspiel von Bild und Kommentar in seinen Katalogen. Stets gegen das Vorurteil argumentierend, Kataloge seien nur das supplementäre Anhängsel von Ausstellungen, realisierte Merkel seine Kataloge als autonome Kunstmedien.
Mit den „Katalogbildern“ erfuhren derartige Transgressionen einen überraschenden und das Werk in eine unvorhergesehene Richtung navigierenden turn. Ab 1992 begann er sein eigenes Werk Bild für Bild en miniature auf Bildwände wiederzumalen. Bezüge wie Original, Kopie, Ausstellungsdisplay, Archiv überblenden und entgrenzen sich, so dass die Motive nicht nur zwischen den traditionellen Kunstparadigmen sondern auch den expandierenden technischen Medien immer ungreifbarer zu oszillieren beginnen. Mit diesen Katalogbildern, die ihrerseits als autonome Kunstwerke allen ästhetischen Anforderungen genügen, eröffnet sich plötzlich ein Speicher, in dem die Bilder als Manövriermasse verfügbar werden. Miniaturisierte Bilder, die beispielsweise lückenlos aneinandergereiht sich zu einem Motiv verketten und als Inserts in Großformate implementiert werden – ein kombinatorisches Verfahren mit unbegrenztem Potential nicht nur für neue Bilder sondern auch für konzeptionelle Kicks.
Um naheliegenden Schlussfolgerungen zuvorzukommen, bedarf es einer grundsätzlichen Differenzierung insofern, als Merkels Vorgehensweise nichts gemeinsam hat mit der Kombinatorik geometrisierter Versatzstücke und Module nach dem LEGO-Prinzip á là Bauhaus. Merkels System funktioniert subkutan aus den Bildmotiven heraus wie gleichzeitig aus der kunstgeschichtlichen Diskussion, die er mit seinen Bildern führt, indem er die formalen und thematischen Voraussetzungen der Abstraktion untersucht. Was ist ein Bild? Was eine Ausstellung?
Wenn, wie Heidegger behauptet, die Sprache sich spricht, oder Derrida, die Schrift die sich schreibt, liefert Merkels Werk eine Anschauung davon, wie Malerei sich malt. In dem lange Zeit projektierten und jetzt erschienenen „hornbook“ wird genau dies, weil im allzeit verfügbaren Taschenformat, evident wie in kaum einem anderen Medium. Ein ausschließlich aus Bildern komponiertes Buch, das abgesehen von den allernotwendigsten bibliografischen Hinweisen, dem Titel übrigens krass zuwiderlaufend, keinen einzigen Buchstaben enthält – und doch kein Bilderbuch ist. But what’s that? „Hornbook nennt man frühe Buchstabentafeln, die man zum Erlernen des Alphabets bei sich trug, unseren heutigen digitalen Begleitern nicht unähnlich. Grundlagentexte zu bestimmten Themen werden gelegentlich auch als Hornbook bezeichnet, “ so zumindest lautet die lexikalische Definition. Der Regress auf ein mobiles Nachschlagewerk im Anfangsstadium der allgemeinen Alphabetisierung verschiebt Merkels Malerei in die Richtung sprachlicher Zeichensysteme. Will man die Bilder aus dieser Perspektive „lesen“, so sticht eine gewisse Zeichenhaftigkeit der Motive hervor – als Träger von Eigenschaften allerdings, die mit der Arbitrarität von Schriftzeichen nicht zu vergleichen sind und ebensowenig mit deren Bedeutungskapazitäten, weil Merkels Formenkanon allein kunstimmanenten Ansprüchen verpflichtet ist.
Eine gewisse formale Verwandtschaft zwischen Merkels Formenrepertoire und grafischen Systemen ist nicht von der Hand zu weisen. Die die Bildfläche organisierenden Linienwerke verlaufen in elementarer Reduktion in Längs- oder Querrichtung, und sind parallel oder diagonal angeordnet. Das machtvolle Schwarz, mit dem sie ins Auge springen, löst in der Tat Assoziationen an Schriftzeichen aus. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die serielle Reihung der in die Kompositionen implementierten Miniaturen. Durch den Titel „hornbook“ werden in erster Linie die textuellen Konnotationen betont, wie es im Begleittext zur Publikation auch eigens hervorgehoben ist: „So sind die Bild-Alphabete von Klaus Merkel in dieser Publikation zu einem visuellen Grundlagentext geworden.“
Der Intention „Buch ohne Text“ trägt auch die äußere Form auf eine übrigens recht originelle Weise Rechnung. Was beim herkömmlichen Buch als Einband und Schutzumschlag dient, ist aufs Äußerste rationalisiert und zwar zu einem abnehmbaren Faltbogen für die Bildlegenden. Zum Gebrauch hält man faktisch einen Rohling in der Hand. Wie es bei einem Buch sein muss, entwickelt sich die inhaltliche Abfolge kapitelweise. Die zusammengestellten Bildergruppen definieren sich außerhalb chronologischer Datierungen nach konzeptionellen Gesichtspunkten. Dabei entsteht eine Vorstellung davon, wie das Material – buchstäblich unter der Hand des Künstlers – sich selbst organsiert und einen endlosen Reichtum an Bildideen generiert, wie die von den ursprünglichen Großformaten wieder- und heruntergemalten Inserts von Bild zu Bild ausschließlich ihrer eigenen Dynamik zu folgen scheinen. Bestimmt grundsätzlich nicht diese vom Bewusstsein des Autors sich emanzipierende Materialdynamik genau das, was Kunst glücklicherweise immer noch so rätselhaft macht?
Das Paradox offener Endlosschleifen und dass hermetisch in sich geschlossene Kompositionen gleichzeitig offene Anschlußstellen aufweisen, erzeugt eine Double-Bind-Struktur, die einer nimmersatten Aufmerksamkeit suggeriert, das jeweils folgende Bild offenbarte das ganze System auf einen Blick – eine Hoffnung, die angesichts der Motivvielfalt trügen muss. Wenn Bilder sich vernetzen oder wie in einer komplexen Maschine ineinander greifen oder wie chemische Elemente sich zu Makromolekülen verbinden, so hat das nichts mehr mit den herkömmlichen Inhalten von Kunstbüchern zu tun. Kriterien wie Thema und Variation oder die chronologische Malbiografie des Künstlers liegen jedenfalls weit ab. Was als immer Unabgeschlossenes die Neugier wach hält, erinnert an den psychologischen Effekt von Sammelalben, deren Reiz im Augenblick der Vollständigkeit erlischt. Was Platon über die Autogenese von Ideen sagt, lässt sich auf Merkels Malauffassung übertragen: Mit Bildern, durch Bilder, um der Bilder willen und in Bildern endend.
Malend philosophieren oder gemalte Philosophie, die zu den multivalenten Aspekten des Merkel’schen Werkes hinzuzudenken wäre. Wie schön, dass dieser platonische Ideenduktus seinen Gegenpol in der Sphäre altbewährter Trivialkünste findet wie im Daumenkino. Beim Augen täuschenden Schnelldurchlauf flimmert in der Buchmitte ein Unraum, in dem die Bilder, durch ihre Selbstähnlichkeit und Formattreue begünstigt, zu einem Hologramm verschmelzen. Das griechische „holos“ heißt „ganz“, und unter „grammé“ verstand man bekanntlich die Linie unter den Schriftzeichen.
Klaus Merkel: hornbook, Kienbaum Artists´Books, 2014 Edition
Snoeck Verlagsgesellschaft mbH, Köln, 2014,
ISBN 978-3-86442-073-3, 224 Seiten, 29,- Euro