Plaudern geht auch. Besser noch gelingt der Disput. Klaus Merkel zieht einen schnell in die Diskussion. Er mag es, wenn Bilder ins Gerede kommen, wenn die Sprache um sie kreist und ihnen bei jeder Runde näher kommt und sich wieder ein Stück weit von ihnen entfernt, bis der Blick auf sie scharf und schärfer geworden ist. Dass es etwas zu verstehen geben müsste an der Kunst, davon war der Künstler von Anfang an überzeugt. Das hat ihn immer etwas unterschieden und ihn zuweilen auch etwas einsam gemacht in einem Kunstbetrieb, der seine verlässlichsten Publikumserfolge mehr denn je mit großzügigen Angeboten zur Verstandesentsorgung feiert.
Dabei verweigern sich Klaus Merkels Bilder keinesfalls der Gefälligkeit. Und wer nur kommt, um still oder laut zu staunen, kommt nicht umsonst. Vom doppelten Grün im Bild Doppler geht ein geheimnisvolles Glimmen aus, dass man meinen könnte, ein Versuch im chemischen Labor sei außer Kontrolle geraten. Und wie sich das diagonale Rosa ins diagonale Grau mischt (88.02.02), das ist aparteste abstrakte Malerei. Hingerissen steht der Interpret vor einem Bild, das im Titel nichts als eine Ordnungszahl führt (98.07.03, vgl. 98.04.01 Kugelkopf) und notiert ein geradezu seismisches Erlebnis: „Gleichzeitig im- und explosionsartig ordnen sich grünschwarze Malkeile zu einer fraktal-geometrischen Struktur, die einerseits eine solche Rasanz und Geschwindigkeit ausstrahlt, dass sie das Bild mit Macht aus seinem Rahmen zu drängen scheint, und andererseits aber auch im Sog seiner eigenen Beschleunigung in die weiße Leinwand hineingezogen werden könnte.“1
In der Regel aber bekennen sich Texte zum Werk von Klaus Merkel eher scheu zum schieren Bildgenuss. Der Reiz, vor 88.02.02 oder 98.07.03 das intellektuelle Pfauenrad zu schlagen, muss unwiderstehlich sein. Jedenfalls gibt es kaum einen Katalogbeitrag, der von Derrida bis Luhmann nicht all die Weltausleger aufmarschieren ließe, die im späten 20. Jahrhundert zum Zeitgastadel gerechnet wurden. Das ist keineswegs abwertend gemeint, so als vertrüge sich der Begriff partout nicht mit dem Bild, der homo doctus nie und nimmer mit dem Künstler. Was an diesem Werk symptomatisch scheint, ist eine besondere Adhäsion des Bildes für den Begriff. Dass Klaus Merkel keinem seiner Gesprächspartner etwas schuldig bleibt, dass er eloquent und belesen in sogenannten „Theorie-Installationen“ auftritt, dass er ein hoch geschätzter, umworbener Kunstlehrer ist, das ist ja nur das eine. Das andere aber, dass er sehr bewusst – nicht aus Verlegenheit – Maler geworden und Maler geblieben ist und die Theoriefestigkeit gerade an der Malerei erproben will. Nichts falscher, als in diesem Werk eine Art Denken in Schaubildern zu sehen. Das Bild bleibt der Ereignisort, der er immer war. Aber es saugt gleichsam die kritische Reflexion, die es induziert und auslöst, in sich auf, es füllt sich mit ihr, wie sich eine Batterie füllt. Und die sinnliche Ladung ist nie ohne das sinnliche Nachdenken über die Herkunft und die Funktion jener Energie namens Malerei zu haben.
Malerei und reflexive Begleitung der Malerei fallen in eins. Man könnte auch sagen, Malerei erprobe sich hier als Spezialfall des Denkens. Und das gilt von Werkbeginn an. Beim Rückblick auf drei Jahrzehnte lassen sich wohl Punkte der Entscheidung benennen, aber keine Brüche markieren. Mit seltener Konsequenz folgen die Werkphasen aufeinander. Wobei Konsequenz gerade nicht entwicklungslogische Abfolge meint. Das jeweils neue Bild verdrängt in diesem Werk nicht das alte. Das jeweils neue Bild ist auch nicht das reifere, das das vorangegangene nur als Vorstufe benutzen würde, um es mit Importanz und Imposanz zu überholen. Klaus Merkels Bilder bedenken immer wieder ihr Verhältnis zueinander, justieren es, verändern ihre Abstände, reagieren aufeinander. Die Bilder werden gleichsam neu gemischt, wie man Karten mischt. Es ist Spielmaterial, aus dem sich immer wieder andere Konstellationen ergeben. Und das nächste Werkkapitel ist dann ein neues Kapitel, aber keines, das dem Ziel ein Stück näher wäre. Wohl ist wahr, dass der Vorrat an Bildern grösser wird, das Archiv umfangreicher. Aber das heißt nichts mehr, als dass auch die Zugriffsmöglichkeiten auf das Archiv immer zahlreicher werden. Vorrat meint Verfügungsmasse. Und vielleicht kann man so das gedankliche Fluidum, das Klaus Merkels Werk begründet, am besten beschreiben: Ein Bild ist etwas, das gemalt wird, um zur Verfügung zu stehen, es ist eine Option auf Gebrauch. Verfügung ist ein Begriff, der auf ein aktives Potential weist. Verfügung fordert auf. Fordert Verfugung, fordert Einfügung, Zufügung. Wer verfügt, besitzt nicht nur. Er hat vor allem dies, er hat eine Möglichkeit.
Ein Werk mithin ohne diese leidenschaftliche Suche, ohne die heroisch maskulinen Kampfgebärden, die den Künstler- und Kunst-Mythos bis heute alimentieren. Es ist bewusstseinsgesteuerte ästhetische Produktion, die hier stattfindet. Und die Bewusstseinssteuerung gründet auf fünf Basis-Überlegungen. Sie sind die tragenden Teile dieses Werks, für seine Architektur alle gleich entscheidend und gleich bedeutsam.
I. Das Bild als Erzählort
Es hat wohl auch mit der Generation und dem Kraftfeld seines Lehrers Peter Dreher an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe und Freiburg zu tun, dass sich Klaus Merkel schon früh für die nicht und nichts erzählenden Weisen des Malens interessiert und entschieden hat. Vor dem Hintergrund von Minimal Art und Arte povera in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erscheint die Konzentration auf eine konzeptuelle Malerei jedenfalls nicht ungewöhnlich. Rückblickend freilich nehmen sich die klare Wegvorgabe und die ebenso klare Wegtreue allemal staunenswert aus. Völlig unbeirrt von der Wiederbelebung narrativer Idiome in den achtziger Jahren hielt Klaus Merkel daran fest, dass das Bild als Erzählort ausgespielt habe und den Bildzeichen – auch nicht als abstrakten – noch irgendeine ferne mimetische Funktion zukäme.
Mit seinen inhaltlosen, weltlosen Zeichen und der Beschränkung auf wenige Farben (grün, rot, gelb, schwarz, selten blau)2 ist dem Maler ein sehr eigenes, unverwechselbares Layout gelungen, eine künstliche, naturdifferente Anmutung, die sich in den Ausstellungen über die Wände verteilt und dort mit eigentümlich bildgenetischer Tendenz visuell stabile Zustände bildet (vgl. Doppelseite Abb. 2-20). Dazu ist auch kein Widerspruch, dass ein Bild mal „Salat“ (97.04.04) heisst und tatsächlich an ein Salatblatt denken lassen könnte. Wenn „Salat“ nicht dabei stünde, wenn der Titel auch diesmal so nüchtern täte wie sonst – 97.04.04 –, dächte man womöglich an einen Fächer. Es gibt keine zwingenden Assoziationen. In einer seiner „Theorie-Installationen“ aus dem Jahr 1993 hat Klaus Merkel auf die Frage, was das Publikum auf den Bildern sehen könne, zur Antwort gegeben: „Nur das, was über die subjektive Stimmung rüberkommt. Die Bilder haben keine ‚Erzählung‘ und sind auch nicht nur Verarbeitung von ‚Abstraktionen‘. Du kannst sie entweder körperlich wahrnehmen oder du kannst sie ablehnen.“3
Merkels Bildzeichen sind Farb- und Formsignale ohne Botschaften. Sind nicht ungegenständlich in dem Sinne, dass es Gegenstände hinter ihnen zu vermuten gäbe. Ungegenständliche Malerei ist eine, die von den Gegenständen absieht, die auf sie verzichtet, die sich – wenn auch negierend – auf Gegenstände bezieht. Hier aber wird nicht abgesehen und nicht verzichtet, hier fehlt der ganze Bezug. Mit demselben Recht könnte man das, was auf diesen Bildern zu sehen ist, gegenständliche Zeichen nennen, Zeichen-Gegenstände.
Solche Zeichen-Gegenstände schwimmen nicht wie Bildfiguren im Bildraum, besetzen dort keine strategischen Stellen. Sie flottieren frei, suchen die Balance und nicht die Dominanz. Das ist eine zentrale Bestimmung dieser Malerei. Nur so wird das Merkelsche Bild nachbarschaftsfähig, verschwistert und gruppiert sich an der Wand. Nur so entstehen Bilder-Reihen, Cluster, Rhythmen. Nur so kann das Einzelbild im Bilderzusammenhang aufgehen. Und ihre besondere Präsentation, der Bildauftritt als Kunstform und als Ausdruck des systemischen Zusammenhalts, hat Merkel-Ausstellungen von den frühen achtziger Jahren an unterschieden.4
Man kann diese Bilder nicht einfach nehmen und sie nach Galerie-Art an die Wand hängen. Sie drängen zusammen, um über sich hinaus auf ihren Kontext aufmerksam zu machen. Was ja nicht heißt, dass sie sich nicht doch herauslösen ließen und einzeln behaupten könnten. Der „Salat“ braucht die Eskorte der salatähnlichen oder salatunähnlichen Bilder nicht, um eine starke grüne Sensation zu sein. Die starke grüne Sensation ist er auch ohne Namen und Gefolgschaft. Und doch wird keine Salat-Geschichte erzählt. Erzählt wird, wenn es das überhaupt geben kann, eine nichtlineare, ungerichtete „Erzählung“, erzählt wird vom Kontinuum der Bilder, das keine Richtung kennt, das sich in alle Richtungen dehnt und streckt, das tief hinein reicht in die Geschichte und Herkunft der Bilder und ebenso tief in den weiten Raum ihrer Möglichkeiten und Horizonte. Mag sein, dass dies ein Widerspruch ist, dieses Beharren auf dem einzelnen, gemalten, also originalen, unwiederholbaren, authentischen Bild und die programmatische Behauptung, mit jedem Bild in Wahrheit am Projekt der Bilder weiter zu malen und beim Einzelbild nie vollends über den Modellstatus hinauszukommen. Ein Widerspruch aber, der seine Lösung nicht einklagt, der es gerade im Medium Malerei gut aushalten kann, nicht lösbar zu sein.
II. Das Bild im Kontext
Klaus Merkels Werk gründet auf der erklärten Absicht, Malerei davor in Schutz zu nehmen, zu erfüllter Geschichte zu werden, sich als progressive Geschichte erfüllen zu sollen. Auch darin kann man die epochalen wie die biografischen Motive erkennen. Tatsächlich war der Künstlergeneration, die Anfang der achtziger Jahre auftrat, die alte Emphase gänzlich fremd geworden, mit der bis in die 68er-Kultur hinein immer wieder das Ende der Geschichte und ihr unmittelbarer Neubeginn statuiert worden ist. Dass Bilder mit herrischer Gebärde die Zeiten und Räume hinter sich tilgen und sich selbst zu säkularen Gründungsakten stilisieren, erschien auch Klaus Merkel wie eine kunstbetriebliche Kultpraxis, die alle Evidenz und Attraktion verloren hat. Radikaler allerdings als viele seiner Generation hat er die abgetanen Ansprüche umgekehrt und gerade aus der Kontextualisierung der Bilder, aus der unhintergehbaren Tatsache ihres Historischwerdens immer neue malerische Antriebe gewonnen.5
So gelten die sogenannten „Katalogbilder“ der Jahre 1992 bis 1995 als eigentlicher Werkbeginn. Damals malte Merkel alle seine bis dato entstandenen Bilder – genauer: alle Bilder seit 1988 – noch einmal, und zwar im Maßstab 1:10, summierte sie zu sieben Panoramen, die er auf große Stellwände montierte. In über 500 verkleinerten Repliken gleichsam ein gemalter Œuvre-Katalog, der dann in verschiedenen Ausstellungen allein oder zusammen mit den Vorlagen gezeigt wurde.6 Wie Kontaktabzüge hat Merkel diese Katalogbilder benutzt, als Layout sozusagen für die Auseinandersetzung mit der Entwicklungsgeschichte des eigenen Werks, das nicht anders denn als Schichtensystem, als hochverdichteter Komplex von Verweisen zwischen hinten und vorne, gestern und heute beschreibbar ist.
Wer dabei an einen modernen Klassiker wie de Chirico denkt, der in einer postmodernen Volte seines Spätwerks sein Frühwerk noch einmal gemalt hat, denkt in die falsche Richtung. Es geht bei Klaus Merkel nicht um Fake und Fiktion, es geht um den nicht historisierenden Umgang mit dem eigenen Bildmaterial, um seine Bestimmung als Archiv, in dem die Dinge wie Matrizen lagern, die jederzeit revitalisierbar sind. Und es geht um die freie Verfügbarkeit des eigenen Bildmaterials, um die Disponibilität von Bildzeichen, die sich aufeinander beziehen, ohne sich nach Massgabe von Fortschritt und Progression zu überbieten, ohne vor allem Bedeutung erst durch die Geschichte zu gewinnen.
So gesehen hat das Werk seine eigentliche Gestalt gefunden als subtile Organisation von Neuerfindungen und Zitaten aus einem Arsenal, das hunderte von Elementarformulierungen umfasst. Die werden nicht älter, haben keine Verfallszeit, müssen nicht weg, schnell aufgebraucht werden. Sie stehen einfach zur Auswahl. Und wenn die Malerei einen neuen Farbwert oder Farbklang auskostet, dann funktionieren die Bilder im Bild wie Popup-Menüs, die sich auf dem Bildschirm öffnen und keine andere Aufgabe haben als zu zeigen, dass die Bewegung im Netz eine der Tiefe, der unendlichen Schichtung, nicht aber der progressiven Reihe ist.
Es wäre tatsächlich nicht falsch, bei diesen Bildern an die nicht-lineare Dynamik verlinkter Web-Seiten zu denken. So wie man sich im Internet weiterklickt, sprunghaft, umwegig, mäandernde Spuren ziehend und die Spuren hinter sich verlierend, so scheinen auch die malerischen Einheiten in Klaus Merkels Werk miteinander vernetzt. Die Werkstruktur bildet sich aus lauter Möglichkeiten, nicht nach Plan oder nach Art maschineller Kraftübertragung. All diese Strategien, mit denen Baupläne zur Ausführungsreife gebracht werden, fehlen hier. Nichts wird geradeaus erzählt, keine Idee in der Wiederholung ausgebeutet und bis zu ihrer Erschöpfung verfolgt. Es fängt etwas an, indem etwas weitergeht. Und es fängt nicht damit an, dass das, was schon ist, erst erledigt werden muss. So gehört es zur Erfahrung in jeder Merkel-Ausstellung, wie diese Bilder sich nicht gegenseitig übertrumpfen, wie sie keine stolzen, überlegenen, keine neidischen Blicke werfen, wie sie alle nebeneinander und miteinander sind – ohne Konkurrenz, ohne Anführerschaft, ohne Demut vor dem Alphabild. Ihr Verhältnis ist eines der Referenz und nicht der Reverenz. Das Bild hat seinen Platz, an der Wand oder an der Stellwand davor oder auf Tischen im Raum. Platz aber heisst nicht Rang.
III. Das Bild der Moderne
Ranglosigkeit indes ist im Selbstverständnis der Moderne nicht vorgesehen. Moderne ist in ihrer innersten Struktur ein agonales Prinzip. Ihre Selbsterzählung handelt von Auseinandersetzungen, Überwindungen, Aufstiegen, erkämpften Meisterschaften, Wegen zur Reife, wundersamen Entwicklungen, herrlichsten Entfaltungen der Geister und der Leiber. Auch und gerade die modernetypischen Kunst- und Künstler-Erzählungen erzählen bis heute nichts anderes. Und dass die kunstbetriebliche Realität solche Erzählmuster mit beträchtlichem Unterhaltungsgewinn immer wieder zu bestätigen scheint, zeigt nur, wie suggestiv der Mythos der Moderne angelegt ist.
Dieser Mythos der Moderne hat im dädaläischen Labyrinth sein vielleicht schlüssigstes Bild bewahrt. Und mehr noch als das verwinkelte Stier-Gefängnis, das der antike Baumeister, Flugtechniker und Künstler ersonnen hat, ist es seine famose Garnrolle, an der alle modernen Selbstauslegungen anschaulich werden. Theseus, der athenische Held, hätte den bedrohlichen Minotaurus möglicherweise besiegt, aber die Rückkehr aus dumpfer Finsternis ans helle Licht wäre ihm ohne Hilfe des Vernunftfadens nie und nimmer gelungen. Das aber ist nichts anderes als die Ur-Kunsterzählung in der Epoche der Moderne. Kunst ist, wenn man dem Vernunftfaden entlang, wenn man der Linie entlang ans Ziel kommt. Kunst ist, wenn man erfolgreich fortschreitet. Kunst ist, wenn man beim Fortschreiten ein Vorher mit einem Nachher verknüpft, ein Früher mit einem Später vergleicht. Aus solchen Vergleichen entsteht Geschichte, aus Geschichte entstehen Geschichten, und wenn die Geschichten nicht nur von der Geschichte erzählen, sondern auch von dem, was jenseits von Geschichte ist, dann sind aus Geschichten wieder Mythen geworden. Der Mythos der Moderne ist der des Fortschritts. Kunst ist bis tief ins 20. Jahrhundert hinein nur ein anderes Wort für den Fortschrittsmythos der Moderne.
Darin gründen Trost und Triumph der Moderne vor allem, dass uns Geschichte, Welt- und Lebensgeschichte, stets als gerichtete versprochen wird. Vielleicht nicht gesteuert, aber ausgerichtet würde sie, müsste sie schon sein. Und keine noch so gravierende Sinnstörung hat das Denken und Hoffen jemals vom unausweichlichen Sinnziel abbringen können. Die Kunst hat in all ihren tröstenden und triumphierenden Momenten nichts anderes getan, als dieses Denken und Hoffen aufs Schönste und Eindrücklichste zu beglaubigen. Das Werk eines Künstlers mag sich noch so viele Umwege erlauben, es geht doch seinen Weg, so haben wir es gelernt – und so haben wir es beim Blick auf die Kunst, beim Umgang mit ihr ja auch immer wieder erfahren. Was uns heute noch dunkel und verwirrend erscheint, wird morgen seine Notwendigkeit, seine innere Struktur umso strahlender erweisen. Und irgendeine Garnrolle hat die Kunstkritik immer zur Hand gehabt, um noch die heterogensten Kunstgegenstände aneinanderzufädeln.
Es gibt kaum ein zweites Werk, das sich radikaler und das heisst bedachter mit solchen Mythen der Moderne auseinandersetzen würde als das Werk von Klaus Merkel. Theoretisch auch, aber doch in erster Linie mit malerischen Mitteln, auf bildnerischem Weg. Es herrscht in ihm eine irritierende Garnrollenlosigkeit. Es fehlt der Faden, der wie im Labyrinth um die richtige Ecke, von einem Bild zum anderen führen würde. Was hält die Bilder zusammen? Was schafft Kohärenz? Kann man überhaupt von so etwas wie einer Bilderstrecke sprechen, wenn man Merkels Bilder nebeneinander sieht? Wo finge die Strecke an? Wo, wie ginge sie weiter? Wo hörte sie auf? Was außer dem System der Jahreszahlen schafft Ordnung, Anordnung? Gibt es irgendetwas, was die Bilder logisch aufeinander folgen lässt, was ein Bild aus dem anderen begründet? Könnte man zum Beispiel sagen, ein Bild aus dem Jahre 1998 nähme noch einmal das Thema eines Bildes aus dem Jahre 1988 auf, variiere es, moduliere es? Wer die Präsentation der „Katalogbilder“ seinerzeit gesehen hat, erinnert sich an den Eindruck unüberschaubarer Fülle, fülliger Unüberschaubarkeit. Es war vor diesen Stellwänden wie vor einem monumentalen bunten Vorhang, auf dem unendlich viele Farb- und Formpattern zur ornamentalen Anmutung verflossen und dabei genau das vermissen ließen, was Ornament ausmacht: Regel, Wiederholung.
Nichts unzutreffender also, nichts konträrer zur Grundüberzeugung dieses Werks als der Schluss, gemessen am malerischen Sachverhalt, am bildnerischen Kenntnisstand der gezeigten Anfänge nähme sich der erreichte malerische Sachverhalt, der bildnerische Kenntnisstand des zwanzigjährigen Werks wie herrlichste Entfaltung aus. Und wenn auch das ganze Werk versammelt wäre, es würde kein verborgener Bauplan, kein genetischer Code dieser Malerei sichtbar werden.
IV. Das Bild des Künstlers
Alles ist vielmehr darauf gerichtet, dieses modernegesetzliche Vorankommen und Voranbringen zu hintertreiben und die Arbeit am Bild nicht mehr als Geniestreich, sondern als Technik, als Möglichkeit, als begründete Operation vorzuführen. Auch Georg Baselitz hat ja unlängst begonnen, seine frühen Bilder aus den sechziger und siebziger Jahren noch einmal zu malen. Um, wie er zu Protokoll gegeben hat7, zu testen ob er es noch einmal schaffe, sich auf diese Höhen zu schwingen, auf denen er einmal war. Denn er finde seine Bilder von damals heute noch ziemlich gut. Interessant ist dieser Selbstversuch gerade deshalb, weil die Versuchsanordnung just zu jenem mythischen Punkt zurückführt, den man als herrliche Entfaltung des Geistes und des Leibes beschreiben kann. Baselitz will’s noch einmal wissen, ob er dem, was er ziemlich gut nennt, in Wahrheit aber für legendäre Jungmeisterschaft hält, auch jetzt, einige Lebensviertel später noch gewachsen ist.
Auch Klaus Merkel will’s wissen. Will wissen, ob man den Mythos der Moderne nicht vollends entlarvt, wenn man ihn nicht nur in seinem Fortschrittsphantasma attackiert. Im selben Masse, in dem Merkels Werk seiner linearen Ausbreitung, seiner angeblich notwendigen Entwicklung, also der Progression von Bedeutung widerspricht, widerspricht es auch der Emphase, mit der sich das, was Bedeutung beansprucht, gegen allen Widerspruch wappnet. So gehört es doch zum festen Bestand modernetypischer Grandiositäten, dass dem gemalten Bild eine ähnlich eminente Rolle zukommt wie dem Künstler selber. Gerade so wie in der klischierten Erzählung der Künstler gleichsam stellvertretend für die verzagte Gesellschaft das ungeheure Risiko des gefährlichen Lebens auf sich nimmt, zeugt auch sein Bild von einem einzigartigen Augenblick, von einem staunenswerten Glücksfall menschlicher Möglichkeiten, von einsamen Höhen, zu denen sich einer aufgeschwungen hat.
Weder für Erhabenheit noch für Unvergleichlichkeit stehen Klaus Merkels Bilder zur Verfügung. Der gemalte „Katalog“ setzt sich nicht kämpferisch mit dem Frühwerk auseinander, misst sich nicht mit ihm und schwingt sich schon gar nicht mit Baselitzscher Seniorenwut zu finalen Höhen auf. Wenn Merkel frühe Bilder aufgreift, frühe Ausschnitte wählt, frühe Bildzeichen, dann nicht, um sie zu korrigieren, zu verbessern, mit Reife auszustatten, sondern weil sie ihm immer noch interessant genug scheinen, um aus ihnen wieder ein neues Bild zu organisieren.
Damals, als die „Katalogbilder“ entstanden sind, hat der Maler auch die Serie seiner „Portraits“ begonnen. Freunde, Kollegen wählen sich aus dem Vorrat der kleinformatigen Elementarbilder wie aus einem Musterbuch, was ihnen gefällt, was ihnen passend oder aus irgendeinem Grunde bedeutsam erscheint. Sie wählen ihre Zeichen-Gegenstände und wählen die Hintergrundfarbe. Den Rest besorgt Klaus Merkel. Er malt. Er allein. Aber der Künstler hat seinen Genievorsprung aufgegeben, verzichtet aufs mythische Privileg namens „Künstler“. So wie derjenige, der das Vorrecht zu haben scheint, aus Klaus Merkels Bildern sein eigenes Porträt-Set zu bestimmen, genau besehen auch kein Privileg hat. Denn just das Gleiche ist jedem erlaubt. Jeder kann anhand der Bilder-Auslage in einer Merkel-Ausstellung sein eigenes Bilder-Set bestimmen. Keine vorgegebene Ordnung zwingt zur Einhaltung der Ordnung. Keine Rangfolge zur Einhaltung der Rangfolge. Kein Regisseur zur Gefolgschaft unter seiner Regie.
V. Das Bild und seine Aura
Natürlich könnte man einwenden, bei allen theoretischen Denobilitierungen und kunstideologischen Abrüstungen bleibt das gemalte Bild ein gemaltes Bild. Und noch keinem Entzauberungsversuch ist es je gelungen, den uralten Zauber des Mediums Malerei nachhaltig zu beschädigen. Mit seltsamer Beständigkeit restituiert sich die Aura, die den Bildern von der Welt geradeso anhaftet wie den weltlosen Bildern. Weder Reproduktion noch Proliferation, weder Verschleiß noch Banalisierung haben ihren magischen Kern getroffen. Klaus Merkel ist dafür nicht blind. Dass er auf dem gemalten Bild beharrt und nicht zum technischen flüchtet, zeigt nur, dass es ihm auch um diesen magischen Kern zu tun ist, und dieser magischer Kern erhalten bleibt, auch wenn Malerei als Kopfarbeit bestimmt ist.
Im Gespräch8 ist Merkel einmal auf die „Logik, die von zwei Richtungen aus operiert“, hingewiesen worden. Jene Logik, die „das Bild dekonstruiert und es gleichzeitig im Akt der scheinbaren Dekonstruktion als neue Möglichkeit erschafft. Das ist in meinen Augen das Münchhausen-Prinzip (…). Der Moment, an dem sich das Bild am eigenen Schopf aus dem Sumpft zieht. Gleichzeitig ist das ja eine sehr prekäre Stelle, weil Du Dich dabei ein Stück weit immer selber dementieren musst, damit das Projekt gelingen kann.“ „Fantastisch“, hat der Künstler zur Antwort gegeben. „Alles ist richtig. Mit einem Unterschied, oder vielleicht ist das gar kein Unterschied: Ich sehe das nicht negativ. In dieser ganzen Ausbeute habe ich selbst nie ein Ende gesehen. Für mich war das immer produktiv.“
Es ist nicht nur ein Trick, wenn Merkel die Aporie als eigentliche Animation ausgibt. Die systemische Anlage seines Werks, das gleichsam emphasefreie Herstellen von Bildern für Bilder bleibt wahr, auch wenn das einzelne gemalte Bild darüber seine nie ganz emphasefreie Authentizität verliert, die ihm als gemaltem Bild eignet. Mit gleichem Nachdruck führt das Werk seine eigene Geschichte als unvergängliche Materialsammlung vor Augen, aus der in immer neuen Konstellationen die Werkausbreitung geschieht, wie jedes einzelne Bild dafür steht, dass über ihm Mal-Zeit vergangen ist, hinter ihm Lebenszeit geblieben ist, dass es sich mit unwiederbringlicher, mithin unverfügbarer Geschichte aufgefüllt hat. Wenn es nur die Diskurse wären, in die sich die Bilder einmischten, verlöre dieses Malerei-Experiment vielleicht doch einmal seine Spannung. Wohl wahr, Klaus Merkel zieht einen schnell in die Diskussion. Er mag es eben, wenn Bilder ins Gerede kommen, wenn die Sprache um sie kreist und ihnen bei jeder Runde näher kommt und sich wieder ein Stück weit von ihnen entfernt, bis der Blick auf sie scharf und schärfer geworden ist. Malerei ist Kopfarbeit, so ist es. Malerei ist aber auch etwas, bei dem man malend Erfahrungen sammelt. Erfahrungen, die alle irgendwo eingeschrieben sind in den gemalten Bildern. Das wiederum lässt die Bilder unschärfer werden. Und so, zwischen Schärfe und Unschärfe oszillierend, bleibt man vor den Bildern stehen, auch wenn alle Argumente längst ausgetauscht sind.
- Stephan Berg „Der Text der Bilder als Bild ihrer Texte“ in Klaus Merkel, Ausstellungskatalog Luckenwalde, Freiburg, Winterthur, 1999 o.P. ↩︎
- ”Mein Zweifel daran, mit allen Farben malen zu können, hat etwas damit zu tun, dass man ein Gerüst auch innerhalb der Farbigkeit sucht, innerhalb der Struktur, die mit der Farbigkeit untrennbar verschwistert ist. Die Beschränkung auf wenige Farben verhindert, dass ich anfange zu ‚komponieren‘. Ich habe festgestellt, dass ich mit dieser begrenzten Palette einen relativ strapazierfähigen Rahmen habe. Dieser erlaubt Absinken in Dunkelheiten oder kann in andere Farbigkeiten oszillieren, er bleibt aber als Gerüst stabil.“ Gespräch zwischen Stephan Berg und Klaus Merkel, Hannover 2002 in „Klaus Merkel. Gestelle geschoben“, Ausstellungskatalog HS 2003, S. 39 ↩︎
- Wie Anm. 2, S. 26 ↩︎
- Vgl. Hanne Loreck „Die Natur der Malerei. Ein Fall von Perversion“ in wie Anm.1, o.P. ↩︎
- „Ich denke, diese beiden Momente durchdringen sich ständig. Im gemalten Bild treten sie in verschiedene Zustandsformen ein. Modell, Original sind gegenseitge Modelle, entwertet und neu bewertet zugleich, richtig und falsch, legt man eine antiquierte Bildbetrachtung zugrunde. (…) Mich interessieren Systeme als Malerei. Dadurch kann auch der Raum befragt werden, in dem Bilder gewöhnlich als Ausstellung erscheinen.“ Wie Anm. 2, S.35 ↩︎
- Galerie Annette Gmeiner, Stuttgart, Galerie Frieder Keim, Köln, 1993 ↩︎
- Verschiedene Interviews, u.a. art-Magazin, Heft 3, 2006, S. 36-43 ↩︎
- Wie Anm.2, S. 41 ↩︎