Kaum eine ästhetische Kategorie wirkt derzeit überholter als die des Werks. Die doppelte Immaterialisierung der künstlerischen Produktion durch Konzeptkunst und Digitalisierung hat das Kunstwerk als materielles Substrat und als Ware scheinbar obsolet gemacht. Hinzu kommt, dass auch die Theorie der Kunst sich von ihm ab- und der re- zeptiven ästhetischen Erfahrung zugewandt hat. Eine neue Kategorie, wie bereits von Walter Benjamin im Namen des Films oder der Reproduktionstechniken generell, von Umberto Eco bezüglich einer neuen Offenheit des Werkbegriffs oder von Roland Barthes im Übergang vom Werk zum Text gefordert, ist gleichwohl nicht in Sicht. Wie in jeder Überschreitungslogik bleibt ein Jenseits des Werks ein recht hohles Versprechen, das mehr von seinem Ausgangspunkt als von seiner imaginierten Zielvorstellung her lebt.
Vielleicht ist es jedoch grundsätzlich verkürzt, am Kunstwerk nur das Materielle, das Geschlossene, Singuläre oder Elitäre zu sehen und zu versuchen, dem dann ein jeweils ganz Anderes gegenüberzustellen. Die Frage stellt sich, ob ‚das‘ Werk in seiner spezifisch historischen Form, die es seit dem 17. und 18. Jahrhundert angenommen hat, nicht eine deutlich komplexere Kategorie darstellt. Ihr Besonderes könnte gerade nicht im Festlegen von einseitigen Eigenschaften bestimmter Gegenstände, die diese dann als Kunstwerke begründen, liegen, sondern im Herstellen einer symbolischen Matrix, die sich nur im Zusammenwirken von spezifischen Verhältnisformen verstehen lässt. Das heißt, was ein Werk zum Werk macht ist gerade der Zusammenhang zwischen einem Materiellen und einem Immateriellen, einem Geschlossenen und einem Offenen, einem Vielfältigen und einem Einheitlichen, einem Konkreten und einem Absoluten. So verstanden wäre etwa das Immaterielle nicht als Überwindung des Werks, sondern als Teil seiner Bedingungen zu verstehen. Auch die heutigen Formen des Performativen, Prozessualen, Aktivistischen oder Konzeptuellen zeugten dementsprechend nicht grundsätzlich von der Auflösung des Werks, sondern bloß von einer, durch dieses selbst erst möglich gewordene Akzentuierung künstlerischer Hervorbringungen.
Wichtiger als seine vorschnelle Verabschiedung wäre daher ein Verständnis des Werks als eine derart komplexe ästhetische Kategorie, die zweifelsohne voller, wie Marx es von der Ware sagt, „theologischer Mucken“ steckt. Eine Genealogie des Werks müsste dementsprechend diese theologischen, alchemistischen bzw. handwerklichen Wurzeln und deren Transformation in den Kosmos idealistischer Philosophie aufarbeiten. Denn die Idee des Werks betrifft nicht nur die Vorstellungen einer besonders gekonnten Hervorbringung, einer genialen Schöpfung oder einer substanziellen Verwandlung alltäglicher Gegenstände, sondern ebenso grundsätzliche philosophische Dispositionen wie etwa die Aufhebung der Kontingenz des Daseins oder eine strukturelle Finalität. So kommt im Werk immer etwas zum Abschluss. Erst als Vollbrachtes wird es als Werk erkennbar; darin findet es dann seine ‚Notwendigkeit‘. Ansonsten bliebe es Stückwerk. Gleichzeitig bleiben im Werkbegriff auch Vorstellungen von Zeit und Arbeit wirksam, etwa das verrichtete ‚Tagewerk‘ Gottes bei der Schöpfung der Welt und da- mit die Arbeitszeit ebenso affirmierende wie diese transzendierende Elemente. Es braucht die Arbeit, das Werk geht jedoch nicht in ihr auf. Es kann deshalb auch nicht kausal rekonstruiert werden, sondern bestimmt sich wesentlich in dieser, die Arbeit transzendierende Finalität. Darin liegt sein spezifischer Mehrwert und letztlich auch seine Idealität begründet: als Versprechen eines Gelingens oder gar einer Versöhnung, die ebenso als Abdichtung gegen das Gesellschaftliche wie als dessen essentielle Verdichtung gedacht werden können.
Das Unbehagen am Werk rührt berechtigterweise daher, dass es Antworten zu suggerieren scheint – das Erreichen einer finalen Einheit, die Aufhebung der Kontingenz und die Versöhnung gesellschaftlicher Widersprüche – die tatsächlich niemals von konkreten Objekten geleistet werden könnten. Doch dieser Mangel zeigt gleichzeitig die eigentliche Stärke des Werkbegriffs an, wird an ihm doch genau die Differenz und damit die Spannung zwischen seiner imaginären Idealität und seinen vielfältigen konkreten Realisierungen sichtbar. Paradoxerweise zeigt sich genau in dieser Differenz die Unmöglichkeit der Realisierung seiner angestrebten Idealität, das heißt letztlich das Nicht-Aufhebbare von Kontingenz, die unabschließbare Endlichkeit seiner Realisierungen und die sich darin ausdrückende Unversöhnlichkeit bzw. Widersprüchlichkeit des Gesellschaftlichen. Entscheidend für das Werk bleibt seine Ausrichtung am Gelingen, das ihm jedoch strukturell gleichzeitig nicht möglich ist. Diese aporetische Bestimmung macht es zum eigentlichen Agenten von Differenzierung und Dynamisierung in der Moderne. Erst in diesem Nicht-Gelingen- Können erhalten die besonderen Verhältnisformen zwischen dem Materiellen und dem Immateriellen, dem Fragment und der Totalität, zwischen der Zufälligkeit des Partikularen und der Notwendigkeit des Universalen jene transgressive Ausrichtung, die heute vielfach für eine Überwindung des Werks gehalten wird.
Jede künstlerische Positionierung muss sich dem Werk auf die eine oder andere Art stellen. Die Idee moderner Kunst ist davon nicht abtrennbar, weil sie sich gerade in werkbezogenen Fragen realisiert, etwa was in einzelnen Werken repräsentiert werden kann und wie diese einzelnen Werke genealogisch in einen Zusammenhang gebracht werden können. Vor allem die Frage, wie sich Einzelwerk und Gesamtwerk einer Künstlerpersönlichkeit, eines Stils, einer Gruppe, einer Einstellung jeweils zueinander verhalten, ist auf einer rein materiellen Ebene gar nicht zu leisten. Die Absicht, die Haltung und die Konzeption von Identität spielen ebenso eine Rolle wie die Vorstellungen von Individualität oder Singularität solcher Identitäten. Dabei gibt es ebenso singuläre Identitäten von Gruppen wie differentielle, das heißt, nicht in eine identitäre Logik integrierbare Aspekte im Individuellen. Das Identitäre des Werks kennzeichnet seine imaginäre Dimension, dem die kategorische Differenz seiner Elemente im Wege steht. Dem Akt einer identitären Vereinheitlichung kommt daher entscheidende Bedeutung zu. Sowohl in der modernistischen, das Werk affirmierenden Tradition als auch in der dekonstruktiven Avantgarde haben sich solche Akte als eigene künstlerische Dimension etabliert. Sie bestimmen als performative und taktische Manöver nachdrücklich die künstlerischen Identitäten und als archivierende oder sich selbst historisierende Setzungen die künstlerischen Methoden von Moderne und Gegenwartskunst. Dies hatte allerdings immer schon die Zuschreibungsleistungen der diskursiven Formationen in Kritik und Kunstgeschichte zur Voraussetzung, denn nur von dort aus konnte sich die Kategorie des Werks überhaupt etablieren, indem sie nämlich einen kategorialen Bedeutungsanspruch für einzelne künstlerische Artefakte erhoben und deren historische Zusammenhänge rekonstruierten. ‚Das‘ Werk zeigt sich darin in erster Linie als eine reflexive Kategorie, in die nicht nur äußerst unterschiedliche historische Vorstellungen einfließen, sondern die grundsätzlich nur in den Wechselwirkungen zwischen Behauptung und Reflexion, zwischen Diskursfeld und Produktionsfeld entstehen konnte.
Der Klassifikation jeweils sehr unterschiedlicher Partikularitäten, etwa in Malerei, Literatur und Musik zu ‚Werken‘ einer Kunst im Allgemeinen gehen Praktiken einher, die diesen Anspruch an ihren konkreten Formgelegenheiten artikulieren. Der kompilatorische Aspekt vor allem literarischer Werke bildet die historische Grundlage der Werkidee, während diese etwa für die Musik erst um 1800 in der Übernahme der bildnerischen Werkidee fassbar wird. Zweifellos ist es jedoch der neuzeitliche Aufstieg der Malerei als eigenständiger Kunstgattung mithilfe von Perspektive und Tableau, der eine bestimmte Idee des Werks hat dominant werden lassen, die nicht nur die Kriterien von Singularität und Totalität definierte, sondern auch noch mit zu seiner Verkennung als materielles Objekt beigetragen hat. An ihr lässt sich auch in besonderem Maß zeigen, wie im Laufe der Moderne die reflexive Klassifikation der Werke und die produktive Behauptung mehr und mehr ineinandergreifen. Die neue genealogische Logik der Klassifikation scheint den Ort jeder neuen Produktion bereits vorzuzeichnen; das Museum als institutioneller Raum lässt diesen Ort in Erscheinung treten und bietet ihn den praktischen Realisierungen als Projektionsfläche ihres Imaginären an. Jede künstlerische Hervorbringung der Moderne ist in diesem Sinne ein Werk, weil die symbolische Matrix, auf die sie bezogen sind, eben eine von Werken ist. Und noch in ihrer Infragestellung schreibt sich diese Matrix fort.
Jenseits von modernistischer Behauptung und avantgardistischer Dekonstruktion stellt sich deshalb für postmoderne bzw. postavantgardistische Positionierungen das Werk als Frage in neuer Weise. Wie kann es als komplexe Kategorie reflektiert und gleichzeitig artikuliert werden? Wie kann das Verhältnis zwischen Repräsentation und Genealogie als spezifische Tradition eines malerischen Werkbegriffs gedacht werden? Und wie kann schließlich die jeweilige Produktion mit den Akten der Klassifikation abgestimmt werden? Klaus Merkels Arbeiten scheinen mir nun in besonderer Weise auf diese Fragen hinzuführen. Sie lassen sich eigentlich erst vor dem Hintergrund der Diskussion um den modernen Werkbegriff verstehen; gleichzeitig interpretieren und erhellen sie diesen und machen ihn damit reflektierbar. Die frühen Arbeiten von 1983/1984, die vor zehn Jahren in der Berliner Ausstellung Klaus Merkel frühe 80er – späte 80er in der Kienzle Art Foundation zu sehen waren, stehen gerade was Anordnung der kleinen hochformatigen Bilder in Reihen betrifft, noch stark im Bann des Minimalismus der 1960er Jahre. Damals war in Objektreihen bzw. Rastern das Klassifikationsmodell selbst zur Form gemacht worden. Damit schien jede Bildhaftigkeit und damit die Repräsentation generell in purer Buchstäblichkeit ausgehebelt, und die Genealogie in ein formales Strukturmoment überführt, das gleichzeitig zum Ausgangspunkt von rezeptiver Partizipation und Erfahrung werden sollte. Im Minimalismus realisieren sich gewissermaßen die unterschiedlichen Überschreitungsformen des Werks als Werk. Die postminimalistische Frage schien vorerst darin zu liegen, wie man die einzelnen Elemente dieses Dispositivs weiter in Richtung Partizipation, Prozessualität oder Konzeptualität verfolgen könnte. Gleichzeitig wurde jedoch auch schon bald sichtbar, dass die Repräsentation keineswegs überwunden und die Genealogie ein für alle Mal strukturell festgelegt worden war. Deshalb wird die Antwort seit den späten 1970er Jahren nicht mehr darin liegen, wie es vom Minimalismus aus weiter geht, sondern wie die darin noch sichtbaren, keineswegs gelösten, sondern im forcierten Behauptungsakt eher übersprungenen Probleme noch einmal genauer reflektiert werden können. Bei Merkel sieht das dann so aus, dass die minimalistische Anordnungsweise übernommen wird, die einzelnen Objekte jedoch keine ‚specific objects‘ darstellen, sondern klassische, kleine und hochformatige Tableaus, die sich zur Bilderwand ausbreiten. In den einzelnen Tableaus stellt sich die Frage nach der Repräsentation, in ihrer Anordnungsweise die nach Klassifikation und Genealogie. Zwischen dem strukturellen Element der Anordnung und dem spezifischen Moment der malerischen Realisierung der einzelnen Tableaus entsteht dabei eine Spannung, die sich nicht mehr in einem einzelnen Behauptungsakt auflösen lässt. Statt einer strengen Struktur entsteht ein offenes Feld, in dem das Werk als Frage sich realisieren kann.
Bereits auf der reinen Bildebene geht es um malerische Zeichen, die weder rein abstrakte Gesten noch eindeutig gegenständlich sind, die eher ein Potenzial in beide Richtungen beinhalteten. Sie ließen sich am ehesten als das beschreiben, was man zu jener Zeit ,Chiffren‘ nannte (arte cifra), ausgehend vielleicht von Zeichnungen von Beuys, bestimmte Formulierungen der abstrakten Malerei der 1950er und 1960er Jahre wie etwa bei Hans Hartung und Emil Schumacher, ohne deren heroischen Ton allerdings, oder Fritz Klemm.
Fast ausschließlich in reinen Grauwerten gehalten, sind dennoch deutlich jeweils Figur und Grund voneinander unterscheidbar und gleichzeitig in ein gemeinsames Malfeld eingebunden. Diese zeichenhaften Elemente finden sich entweder zentriert oder diagonal, linear oder gekräuselt, eher am Strich oder am Farbfeld orientiert, pastos oder dünn aufgetragen. Jedes Einzelne setzt eine Entscheidung voraus. Die Bildserie wäre ins Unendliche fortsetzbar und präsentiert sich doch abgeschlossen an Zahl und Anordnung: Variationen über kein Thema. Die Vorgehensweise ist ähnlich analytisch, wie wenn Richard Prince den Marlboro Man in seine Bestandteile zerlegt vorführt. Die Chiffren repräsentieren sich als Elemente von Malerei, nicht unmittelbar als diese selbst. Damit artikulieren sie ihr Mögliches und Unmögliches zugleich.
Der Zusammenhang zwischen dem Zeichenfeld des einzelnen Bildes und dem Bildfeld aller Tafeln wird nicht im Sinne einer ‚geschlossenen‘ ästhetischen Entscheidung thematisiert. Er bleibt notwendigerweise ‚offen‘ hin zur rezeptiven Erfahrung und kann dort nur als Frage nach dem Status des Werks sinnvoll hergestellt werden, da nämlich weder die Frage nach Referenz und Relevanz des Dargestellten, noch die nach der Anordnung und Abfolge stringent durch formale, strukturelle, prozessuale oder persönliche Momente beantwortet werden können.
Zwischen den einzelnen formalen Dimensionen der malerischen Zeichen, zwischen Zeichen und Bild, zwischen den Bildern untereinander und ihrer gesamten Anordnung ergeben sich Referenzketten, die eine gleichzeitige und gemeinsame ‚Werkerfahrung‘ unmöglich zu machen scheinen, die aber dennoch eine solche Erfahrung als Möglichkeit voraussetzen, um überhaupt sinnvoll in ihrem Zusammenhang interpretiert werden zu können.
Im Laufe der 1980er Jahre kommt es zu einer, allerdings höchst ambivalenten Aufwertung des Einzelbildes. Die Formate wechseln, fast reinbunte Farben treten hinzu; die Zeichen lösen sich stärker vom malerischen Code der 1950er Jahre, sie werden noch systematischer als Formen und Farben, Linien und Flächen, Figuren und Gründe gefasst und kontrapunktisch gegen einander gesetzt. Die Chiffren verschwinden dabei in den Zeichenwerten der Malerei selbst. Einzelne Tableaus treten den Bildwänden entgegen, verbleiben jedoch in deren Bannkreis. Auch die Bildwände selbst verändern sich; sie geben, der unterschiedlichen Formate wegen, die Rasterung auf und zeigen sich als ein offenes Feld. Ohne das Raster wird der Bezug der einzelnen Tafeln aufeinander prekär. Wie in einem horror vacui füllen diese nun die gegebenen Wände der jeweiligen Ausstellungsinstitution und setzen sich somit räumlich dazu ins Verhältnis. Zwischen Einzelbildern, kleineren Bildreihen und solchen Bildwänden entstehen Beziehungsformen, die weder im minimalistischen Verständnis eines Gesamtraums noch in der reinen Relationalität von Einzelwerken aufgehen. Gerade der Zwischenraum ist das Thema. Dieses lässt sich nicht rein räumlich-formal artikulieren; in ihm wird wiederum die Frage nach dem Werk virulent. Wie viel Zusammenhang braucht und wie viel Vereinzelung verträgt das Werk? Welche Rolle spielt dabei der gegebene Ausstellungsraum, die institutionelle Situation, das Verhältnis zur fotografischen Repräsentation bzw. Dokumentation in den Katalogen und schließlich das Verhältnis der Ausstellungen zueinander?
Hier finden sich reichlich Elemente eines Diskurses zwischen Malerei und Werk aufgeführt, die sich, in der plötzlich stark veränderten Situation der frühen 1990er Jahre, in der nicht nur der Kunstmarkt fast zum Erliegen kam, sondern sich gleichzeitig auch das Paradigma der Malerei in Frage gestellt sah, noch einmal zuspitzen. Das heißt, in den Katalogbildern von 1992 – 1995 nimmt Merkel einerseits wesentliche konzeptuelle Elemente der bisherigen Vorgehensweise auf und versucht andererseits einen Einschnitt zu setzen, durch den die bisherige Idee der Genealogie, das Fortschreiten der Arbeit von Bild zu Bild, von Reihe zu Reihe unterbrochen wird. Die Katalogbilder bestehen aus sieben Tableaus, die in Form von Stellwänden frei im Raum aneinandergereiht sind und auf denen sich alle ab 1988 gemalten Bilder im verkleinernden Maßstab von 1:10 kopiert finden. Insgesamt sind es 545 verkleinerte Repliken, das gesamte Werk des ausgewiesenen Zeitraums. (Zur Beschreibung der Katalogbilder siehe Herbert M. Hurka, Katalogbilder 1992 – 1995, in: Klaus Merkel, Gestelle geschoben, Katalog Monrepos, Ludwigsburg, 2003). Die Arbeit versucht also nicht nur, die Katalogseite mit der Fläche des Tableaus, das Buch mit dem installativen Gestell der Stellwände, die Reproduktion mit dem Original, insgesamt also den diskursiven Raum der Klassifikation mit dem produktiven Raum der Malerei in Verbindung zu bringen, sondern gleichzeitig auf einen Neubeginn im Verhältnis von Genealogie und Repräsentation zu setzen. Indem die Genealogie sich nicht mehr als quasi natürliche Entwicklungsgeschichte präsentiert, sondern im Raster selbst als archivologische Instanz repräsentiert, und somit als Abfolge bestimmter einzelner Entscheidungen lesbar wird, steht auch jede weitere Entscheidung zur Disposition. Alles scheint plötzlich möglich oder auch gar nichts. Merkel entzieht sich dieser Aporie, indem er sich in seinen Arbeiten seither für eine neue Genealogie entschieden hat, die auf diesem Bruch aufbaut. Alle neuen Bilder bzw. installative Arbeiten beruhen insofern auf den Katalogbildern, als sie Elemente von reproduzierten Bildern, deren Anordnungs- oder Präsentationsweisen zum Ausgangspunkt neuer Bildfindungen nehmen. Die malerischen Mikrozeichen können dabei nahe an der gerasterten oder seriellen Präsentationsform gehalten und zu langgezogenen Bildformaten gedehnt werden; sie können die Stellwände zu Gerüsten oder Tischen verwandeln, die nicht mehr nur als reine Bildträger fungieren, sondern sich den Bildern objekthaft entgegensetzen. Gelegentlich werden die minimalisierten Zeichen wieder ins große Bildformat zurück übertragen und zu gigantischen Bildwänden aneinandergereiht. Einzelne Elemente finden sich aber auch einfach isoliert zu neuen Tafelbildern verwandelt wieder, in die wiederum zunehmend andere Details montageartig eingearbeitet und malerisch bearbeitet werden. Die Stärke der Einzelbilder liegt nicht alleine in ihrer formalen Prägnanz, sondern darin, dass sie methodisch und programmatisch so gefasst sind, dass sie auch als Einzelbilder einen symbolischen Raum, den des Werks, eröffnen, in dem sie als Variable ohne Thema nicht einfach Sinn machen, sondern das strukturelle Moment jeder Sinnproduktion in Erscheinung treten lassen. Entscheidend hierfür ist, dass das Werk weder im Einzelbild noch im Gesamtzusammenhang der Bilder, weder in der reflexiven Klassifikation noch in der malerischen Produktion, weder in der Repräsentation noch in der Genealogie verortet werden kann. Es wird nur als regulative Idee verständlich, die die unterschiedlichen Dimensionen der Zeichen, Bilder und Bildträger aufeinander zu beziehen erlaubt. Mit großer Freiheit eignet sich Merkel das eigene Werk als eine solche Idee an; sie erlaubt ihm, die eigene Arbeit immer wieder zu überwinden und gerade dadurch neu zu definieren. Rezeption und Produktion greifen dabei ineinander und ermöglichen somit eine künstlerische Verfahrensweise, in der ein strikter Selbstbezug und die Öffnung hin zu den strukturellen und historischen Gegebenheiten wie dem Minimalismus der 1960er Jahre, der Malerei der 1980er Jahre, der ‚kontextuellen‘ Krise der frühen 1990er keinen Gegensatz mehr darstellen.
Als Künstler tritt Merkel dabei weder als Schöpfer seines Werks auf noch verschwindet er gänzlich in diesem, wie es etwa die strengen Werkästhetiken seit dem späten 19. Jahrhundert gefordert hatten. Er agiert vielmehr im Austausch mit dem Werk und entwirft sich dabei selbst als Autor. Das heißt, Autorschaft und Werk interagieren miteinander: das Werk lässt sich zwar durchaus als eine Geschichte von autorschaftlichen Entscheidungen lesen, die jedoch nicht als autonome Gesten auf- treten, sondern von der Werklogik selbst her zumindest mitbestimmt sind. Jede Entscheidung ‚materialisiert‘ sich in einzelnen Werken, und diese einzelnen Werke ‚fordern‘ wiederum Entscheidungen hinsichtlich ihrer repräsentativen Ansprüche und genealogischen Dynamiken. Werk und Autorschaft entfalten sich so im Austausch miteinander zu einer zunehmend komplexen, erst retrospektiv wirklich erschließbaren und gleichzeitig auch nach außen hin offenen Konstellation. Denn die Erwartungshaltungen und -räume der Rezeption spielen dabei eine besondere Rolle, doch wird es erst an ihnen spürbar, was von Kunst, was von Malerei, was von einem Werk und von einzelnen Werken zu einem besonderen historischen Augenblick erwartet werden kann. Merkels Autorschaft folgt daher weder einer reinen Ausdruckslogik noch einer eindeutigen inhaltlichen Bestimmung; sie ist den einzelnen Werken weder vorgegeben noch geht sie identitär in ihnen auf. Vielmehr ist es das Werk selbst, das sich als autorschaftliche Frage in jedem einzelnen Bild realisiert. Noch die formal geschlossenste Komposition erweist sich darin als ein Differential und insofern als kontextoffen, da sie stets auf den Möglichkeitshorizont anderer Entscheidungen ebenso verweist wie auf jene gesellschaftlichen und diskursiven Bewegungen, die gerade das Werk heute zu einer scheinbar so fragwürdigen Kategorie gemacht haben. Im Kontext der 2000er Jahre, als für Momente im Boom des Kunstmarkts eine Wiederkehr klassischer Werkvorstellungen behauptet wurde und gleichzeitig eine Projektkultur florierte, in der das Werk gar keine Rolle mehr spielen sollte, kommt diesem Ansatz exemplarische Bedeutung zu. Denn der Autor Merkel ‚rettet‘ keineswegs das Werk. Ganz im Gegenteil lässt sich gerade die Fragwürdigkeit des Werks als positive Bedingung seiner autorschaftlichen Positionierung verstehen, oder als jener imaginäre Fluchtpunkt, auf den hin sich die unterschiedlichen Linien seiner Arbeit: die ‚materiale‘ Logik der Malerei, die installativen Anordnungsweisen und die konzeptuellen, autorschaftlichen Interventionen, ausrichten.
Erstveröffentlichung des bisher unveröffentlichten Textes von 2012