Klaus Merkel

Texte

Fabian Ginsberg: Die Bewertung der Kunst

Kunstmuseum Reutlingen, , 2022

Die Bewertung der Kunst - Werke von Jack Goldstein, Ketty La Rocca, Josef Kramhöller und Klaus Merkel aus der Sammlung Kienzle


Um 1977 wurden in New York Bilder ausgestellt - „Pictures“, die Kritiker von einem neuen Begriff von Repräsentation sprechen ließen. Es wurde behauptet, dass Bilder nicht die wirkliche Welt abbilden, sondern dass sie immer nur auf vorhergehende Bilder verweisen, indem sie ein selbstbezügliches Netz bilden. Dieses Verweissystem setze uns in eine Gefangenschaft der Codes und Sprachen unserer Kultur. Nicht die Erfahrung aus erster Hand, sondern die medial vermittelte Erfahrung stelle die Realität und die Subjekte erst her.

Heute ist die Krise der Repräsentation, wie sie im modischen Diskurs der Postmoderne besprochen wurde, längst auch im politischen Feld angekommen - die kollektive Reality erscheint zugleich ausweglos, flüchtig und alternativ - ein Problem das freilich durch Walter Lippmann bereits 1922 beschrieben wurde. Charles Sanders Peirce entwickelte die Grundlagen der Semiotik Ende des 19. Jahrhunderts und wurde von Umberto Eco und Roland Barthes in den 50/60ern wiederaufgenommen. Wahrscheinlich begleitet uns diese Krise der Repräsentation schon lange.

Als vorherrschende Methode der Pictures Generation gilt die Appropriation (Aneignung). Künstler treten nicht als Schöpfer autonomer Werke auf, sondern eignen sich bereits vorhandene Bilder und Medien an. Bilder wiederum stellen nicht vorgängige Wirklichkeit dar, sondern beziehen sich auf andere Bilder. Wie die Sprache entwickeln sie ein Netz, das unser Modell von Realität erst webt.
Wenn Bilder sich auf Bilder beziehen, sind sie vermittelte Vermittlungen, d.h. sie beruhen nicht auf identischen Elementen, sondern auf Verhältnissen. Als doppelte Leere wurde das beschrieben: nicht objektive Wirklichkeit, nicht subjektiver Ursprung. Übrig bleibt eine leere Referenz, Verweis auf Verweise - Aneignung und Wiederholung,
Dieser Verhältnisse und Vermittlungen gibt es viele; sie unterscheiden sich methodisch; die innere Differenz, die sie herstellen, bildet eine bewertende Kette der Bedeutung. Aus einem erweiterten Konzept von Aneignung lässt sich eine diskursive Ökonomie der Werte ableiten.

Bilder von Bildern, das ist der Ausgangspunkt aller hier gezeigten Künstler. Die Ausstellung nimmt den Befund des Verlusts einer realen und legitimen Referenz der Bilder auf Wirklichkeit ernst. Zugleich geht sie davon aus, dass künstlerische Werke theoretische Modelle sein könnten, die die Wirklichkeit zwar nicht abbilden wie in einer Analogie, aber homolog mit ihr verbunden wären - um unser Verständnis der Herstellung der Wirklichkeit zu erweitern.

Wenn Werte (mit dem amerikanischen Philosoph John Dewey) weder überirdisch/ fundamentalistisch gegeben, noch individuell relativ wären, sondern die Resultate und Bedingungen geschichtlicher und gesellschaftlicher Erfahrung, dann durchdringen sie alle Fakten der menschlichen Welt, gehen ihr voraus, stellen sie her, wandeln sich aber auch, und lassen sich verändern. Sie bedingen Handlungs- und Erkenntnisfähigkeit, und sie unterliegen ihr. Werte sind dann Hypothesen: sie verbinden eine Wertempfindung mit der Reflexion ihrer Bedingungen und ihrer möglichen resultierenden Handlungen. Auf diese Weise werden Werte bewertbar - wir können fragen, ob das gewünschte wünschenswert ist; wir können erkennen, welche materiell-semiotischen Apparate, welche Methoden und Interessen den Werten und ihrer Produktivität zugrunde liegen; wir können reflektieren, mit welchen Veränderungen in der Infrastruktur der Werte wir die reale Herstellung von Wirklichkeit erfreulich verändern können.

Wir müssen nicht mehr darauf bestehen, welche Welt faktisch gegeben, objektiv, und selbstidentisch universell wäre - und welche dagegen nur eine subjektive Wertung und deshalb im Zweifelsfall zu verbieten - sondern wir müssten akzeptieren, dass es Welten nur in Versionen gibt, um deren wünschbare Herstellungsweisen wir streiten könnten. Kunst kann diese Versionen und ihre Herstellungsweisen, diese Ökonomie der Werte, sichtbar machen.

Das konzeptuelle Werk von Ketty La Rocca (*1938 in La Spezia - 1976 in Florenz) wird international ausgestellt und in den Kategorien Body Art, feministische Kunst, Fotografie und Video besprochen. In der Ausstellung „Die Bewertung der Kunst“ wird es erstmals in einen Zusammenhang mit der Appropriation Art der Pictures Generation gestellt, zu deren maßgeblichen Vertretern Jack Goldstein gehört.

Ketty La Roccas frühe Collagen (Non voglio il conto della vita, 1963, Collage) wollen weder eine wirkliche Welt abbilden noch künstliche Bildlichkeit konstruieren. Ihre Bilder kommen aus dem Kitsch der Medien, der Werbung und Nachrichten und sie beziehen sich -ideologiekritisch - auf ihn. Oft nutzt sie die gefundenen Texte und Bilder um Doppeldeutigkeiten und Zweifel hervorzurufen. Ein häufiges Motiv ist das Bild der Frau, das die Werbung entwirft. Non voglio il conto della vita - ich will nicht die Rechnung für das Leben.
In der Weiterentwicklung ihrer Arbeit erkennt La Rocca die Ausweglosigkeit ihrer Kritik an der Sprache der Bilder, die immer innerhalb der Sprache bleiben wird. In der großen Serie ihrer Riduzioni (Reduktionen) (Margherita Gauthier, 1974, Filmplakat und vier Tuschezeichnungen auf Papier) unterwirft sie vorgefundenes Bildmaterial aus einem Florentiner Fotoarchiv, Werbebilder, aber auch dokumentierende Fotos eigener Ausstellungen und Performances einem Prozess der Überschreibung. Sie begreift die Bilder nicht als Ab- Bilder von einem lebendigen Realen, sondern als Entstellungen durch eine eigengesetzliche Sprache, die die Wirklichkeit usurpiert (genau wie die spätere Pictures Generation). Ohne dem Verweissystem der Sprache entkommen zu können, besteht La Rocca auf der Des-Identifikation. Das Leben ist anderswo. Gegen die fixierende und entwertende Sprache setzt sie einen Prozess körperlicher Aneignung in Gang, um die Bilder immer wieder und wieder zu überschreiben und der Fixierung zu entziehen. Die Konturen der Fotos durchpausend, übersetzt sie sie in Linien und Handschrift. Es ist ein Vorgang ohne Ziel - die Bilder werden nicht erlöst oder gereinigt. Es geht um den Akt körperlicher (handschriftlicher) Aneignung und Verfremdung in einem Prozess, der unabschließbar ist, aber die falsche Identifikation von Bild und Wirklichkeit aufschiebt.

J (J, 1970, Acrylglas) ist ein Werk von 1970. Es erinnert an das französische „je“ (ich), das für La Rocca immer im Wechselspiel mit dem „you“ steht, mit dem sie sich und die Betrachter ihrer Werke anspricht. Das Befremden über die Verkörperung, die Objektivierung und Zeichenhaftigkeit des Selbstverhältnisses, das nie eine einfache Identität sein kann, vereinen sich in dieser faszinierenden Skulptur. Das Ich ist das andere, du bist ich, ich bin du - La Roccas Dichotomie von Du und Ich entlarvt den methodologischen Individualismus der im Subjekt-Objekt-Verhältnis steckt: dort fehlt immer die andere - du.

Hände (You You, 1975, Tuschezeichnung auf Fotografie, 10-teilig) sind für die Künstlerin verbunden mit der Hoffnung, der identifizierenden Sprache zu entgehen, in der sie sich und ihre Differenz nicht vorgesehen findet. Ketty La Rocca, vertraut mit der semiotischen Theorie ihrer Zeit, erforscht die Taubstummensprache und die scheinbar direkte Kommunikation der Mimik. Dennoch: die Kluft zwischen Bild und Abbild, Zeichen und Bezeichnetem kann nicht aufgehoben - aber beschrieben werden.

Das Werk von Jack Goldstein (*1945 in Montreal - 2003 in San Bernardino) war maßgeblich für die von Douglas Crimp theoretisch gefasste Repräsentationskritik der „Pictures-Generation“ und ihre Methoden der Appropriation. In der Ausstellung „Die Bewertung der Kunst“ werden die epistemologischen Tiefen dieses Oeuvres in einen Zusammenhang mit den konzeptuellen Methoden anderer Künstler gestellt, deren Werk eine entsprechende philosophische Dimension zu eröffnen ermöglicht. „Pictures“, die Ablösung von einem alten Repräsentationsbegriff, ist der gemeinsame Horizont dieser Ausstellung - mit neuen Aussichten.

The Knife Das farbige Licht, das über das Messer gleitet und es einfärbt, gehört zum Bild des Messers. Obwohl das Bild seine Künstlichkeit und seine Effekte demonstrativ vorführt, zerfällt es nicht in eine Addition derselben, sondern gewinnt eine Glätte. Es ist die Glätte des Vorstellungsbildes, das unreduzierbar erscheint, wie ein Begriff oder ein Gefühl. Gleichzeitig bietet dieses Bild keine Information an, wie es das Werbebild tut, das für ein Markenprodukt eine ähnliche identifizierende Einheit von Bild und Gegenstand schafft. Der Unterschied ist, dass das Werbebild einen Affekt anbietet, der eine Wertung und einen Appell enthält, in dem sich die Suggestion des Bildes entladen kann. In Goldsteins Filmen fehlt dieser affektive Appell an eine Handlung des Betrachters. Die Mittel der Überredung finden keine Pointe. Die Bilder wirken unheimlich, bedrohlich - eine mit sich selbst identische Konstruktion von Effekten, die zum Gegenstand gerinnt. Zum Vorstellungsgegenstand, der nur im Bewusstsein existiert. Wir sehen hier nicht dieses oder jenes Messer - sondern das Messer (mit Roland Barthes: die Messerheit). Wir können versuchen in unserer Wahrnehmung damit zu spielen - abzuwechseln zwischen der Spur des konkreten Objekts und der substantivierten Form eines Universellen - wie ein Vexierbild des Verstandes. Eine springende Figur - der Sprung. Wo Ketty La Rocca die Kluft zwischen (Bild-)Sprache und Realität vergrößern will, um sie zugunsten von Differenz zu verkörpern, da treibt Goldstein, ebenso analytisch, die Identifikation als Kluft auf die Spitze - als Idealisierung. Eine Idealität mit Zügen von traumatischer Derealisierung.

Goldstein ließ seine Bilder von Assistenten in Airbrush-Technik auf der Grundlage vorgefundener Fotografien anfertigen: Fotos von Krieg und Zerstörung, die eine besondere technische Apparatur erfordern, um etwas zu zeigen, das dem nackten Auge in dieser Form verborgen bliebe. Goldstein entzieht den Bildern die Referenz auf Körperlichkeit, sowohl in der Herstellung, die die Spur der Hand vermeidet, im Format, das niemand allein tragen kann, und in der Darstellung, die spezielle Kameratechnik erfordert. Das Bild verweist nicht mehr auf seine materielle Herstellung, aber auch nicht auf eine konstruktive Arbeit. Es ist nicht erfunden, sondern vorgefunden worden. Es verweist auch nicht auf äußere Wirklichkeit. Was bleibt ist die leere Referenzialität eines scheinbar ursprungs- und körperlosen Vorstellungsbildes: die Glätte des Affekts. Seine Medialität bildet eine selbstbezügliche Verweis-Struktur, die Subjekt und Objekt ausschließt. Das stellt ein Paradox her - denn wir, die Betrachter, sind ja da. Und wir beobachten eine Beobachtung. Das Bild steht da wie ein Schock - aber es ist ein Schock zweiter Ordnung, beobachtbar.

Untitled 1990, ein vierteiliges Bildobjekt, sieht aus wie das Bild eines abstrakten Gemäldes. Es zeigt diagrammatisch voneinander abgesetzte Höhen und Tiefen, die ihm etwas changierendes verleihen, wie das konstruierte Bild der Oberfläche eines fernen Planeten. Aber es ist die Hautoberfläche eines Menschen.

Die Malerei bestimmt die Praxis von Klaus Merkel (*1953 in Heidelberg), nicht der Bezug auf mediale Bilder. Aber auch er steht im Wandel des Repräsentationsbegriffs, da die Zeichen der Malerei keine Bedeutung mehr tragen, weder für eine Welt außerhalb, noch für eine bildimmanente Konstruktion, noch für einen mythischen Ursprung im Künstler. Zudem sind sie frei von Expression und Affekt. Als Zeichen sind sie gleichwertig und bedeutungslos. Im Modernismus markierten sie noch malerische Probleme. Das ist vorbei, es sind Zeichen, kein Problem und keine Lösung darstellend, nur noch Effekte (einfache Verhältnisse), die sich der Künstler aneignet.

Der einfache gemalte Effekt wird Bild - und monumentalisiert es auf eine nicht geheure Art, da klassische Gemälde von unzähligen Effekten, oder Verhältnissen konstruiert waren (87.12.12 Tiere, 1987, Öl auf Leinwand). Zwei solche einfachen Effekte auf einem Gemälde drängen auseinander, als wären es zwei Bilder (88.06.01, 1988, Öl auf Leinwand). Bilder in einer Ausstellung zusammengehängt, werden zu einem neuen Gesamtbild. Merkel malt bisherige Bilder noch einmal in einer Verkleinerung von 1:10 und nebeneinander aufgelistet auf einem Bild. Die systematische Selbstaneignung und Differenzierung führt so weit, dass es möglich wird, ungemalte Bilder zu malen, als wären sie vom System vorgesehen und nur nicht realisiert worden (98.09.01 Ungemalte Bilder (mit Rand) EXTRAS Luhmann, 1998, Öl auf Leinwand). Aber sind sie nun gemalt oder nicht?

Eine Reihe von Operationen wird möglich: Die freigewordenen einfachen Effekte werden bildhaft und in eine systematische Ordnung gebracht. Die systematische Ordnung drängt auf höherer Ebene zu neuen Anordnungen, die das Bild in Zeit und Raum virtualisieren. Das ermöglicht eine Ordnung, die von vielen Beobachtern als systemtheoretisch beschrieben wurde. Aber die Loslösung der alten Identifikation von Gemaltem, vom Bild und vom Träger macht auch rückwirkend die alten identifizierenden Kräfte sichtbar - denn es bestand offensichtlich nie eine natürliche Notwendigkeit diese Ordnungen zu koppeln. Die Kopplung war konventionell: das Gemalte, das Bild und der Träger - man hatte sie immer miteinander identifiziert in der Institution „Malerei“ - und mit ihrer Identifikation einen bestimmten Gebrauch der Bilder verknüpft. Einen praktischen Gebrauch: ihre Ausstellung, ihre Abbildung in Katalogen, ihren Handel. Einen symbolischen Gebrauch in der Formierung des kontemplierenden Subjekts und des Publikums, das eine Öffentlichkeit bildet, sowie im Konsens über eine gemeinsame Realität. Eine bestimmte Art, Subjekte bürgerlicher Öffentlichkeit und Objekte bürgerlicher Märkte herzustellen. Indem nun neue Kopplungen entstehen, reicht das vom Träger gelöste Bild in den Raum seiner Ausstellung und ihrer Funktionen hinein - zu einem historischen Zeitpunkt, da das Publikum dieser Öffentlichkeit und der freie Wettbewerb dieser Märkte nur noch bedingt und wahrscheinlich immer weniger gegeben ist. Stattdessen erfasst die Virtualisierung und Digitalisierung, die Merkel in seinem Werk erprobt, defragmentierend die Institutionen der Kunst und der Gesellschaft und verwandelt sie.

Während die isolierten malerischen Effekte als freigeworden aus der alten Repräsentationsfunktion des Gemalten beschrieben werden können, handelt es sich bei der gesellschaftlichen Konvention der Benutzung des Bildes um seine Repräsentanz. Alles was bildwürdig wird, ist aufgewertet - automatisch. Es gibt kein Bild ohne Wertung. Es braucht chirurgische Präzision, um das Gemalte so weit von jedem Sinn und Affekt zu befreien, dass sein Wert als Bild gegenstands- und referenzlos wird. Wenn die Tendenz des Bildes zu bedeuten, zu verweisen und zu verherrlichen neutralisiert wurden, wenn es leere Formel ist, dann treten die abstrakten Mechanismen der Bewertung seiner umgebenden symbolischen Ordnungen sichtbar zu Tage, und statt etwas konkret Inhaltliches zu be- oder zu entwerten, (zum Beispiel die Malerei innerhalb der Kunst oder eine bestimmte Malerei in der Malerei) wird Bewertung abstrakt.

Der Wert wird von jeder konkreten Referenz befreit. Wert als stille Potenz, referenzlos, ungebunden, ungedeckt, aber vorhanden als Systematik von Wertkategorien vor jeder Bewertung - als Ökonomie. Als Programmcode der Bewertung. Die völlige Sinnlosigkeit der Merkelschen Bildfolgen (die genau genommen nicht abstrakt sind, sondern theoretisch, während abstrakt das sichtbar gemachte reale Bewertungsprogramm ist) ist die Voraussetzung für die Darstellung einer Systematik der konventionellen Bewertungskategorien der Kunst: Gemaltes, Bild, Betrachter, Träger, Ausstellung, Publikum, Katalog, Markt & Gesellschaft (samt imaginären und identitären Zuschreibungen, die nur darauf warten irgendwo aufzusitzen). Merkel reiht sie auf und schiebt sie ineinander, mit der Ernsthaftigkeit, die man einem so sinnlosen wie unumgänglichen Witz widmet (eine Verwandtschaft mit Dieter Roth). Merkel bewertet nicht, er schreibt es auf - indem er sich allen Wertungen enthält, gelingt es ihm, dieses unvergleichliche Oeuvre als Aufschreibesystem eines Bewertungssystems in Abstraktion zu entwickeln.

Josef Kramhöllers (*1968 in Wasserburg/Inn - 2000 in London) Werk umfasst Bilder, Performances/Videos und Texte. In seinem 1999 erschienenen Buch „Genuss Luxus Stil“ findet er eine leidenschaftliche und gebrochene Sprache, die den Habitus der Künstlerkollegen an der Akademie, ihre Konkurrenzkämpfe und Distinktionen als Ökonomien sichtbar macht, die auf der Aneignung von symbolischem Kapital gründen. Für Kramhöller, dessen Eltern Landwirte waren, wird sein Studium der Kunst in London, der Finanzmetropole Europas, zu einem Modell, das er sich sprachlich und körperlich-performativ aneignet und übersetzt. Mit Sensibilität und analytischer Schärfe findet er Formulierungen in einem Werk, das zu früh abbrach, und für eine Zeit, in der wir immer noch leben, sodass wir von ihm berührbar bleiben.

Für Kramhöller, den 1968 geborenen ist fraglos, dass er in einem Netz der Sprache, der kulturellen Codes gefangen ist, das die Wirklichkeit nicht abbildet oder interpretiert, sondern „usurpiert“ (DC, dessen Text inzwischen kanonisch geworden ist). Aneignung/Appropriation ist kein emanzipatives Verfahren (gegenüber dem Selbst-Identischen) mehr, sondern ausweglose Bedingung; Appell, am Selbst zu arbeiten.

Der Künstler muss nicht etwa eine Sprache finden, um sich auszudrücken, denn diese Identität ist eine Fiktion, die die Sprache ja erst bildet. Die Identität ist so unumgänglich wie befremdend, wer sie sich nicht konstruiert, bekommt sie von den anderen.

Er erkennt, dass die zur Verfügung stehenden Rollen, Gesten, Codes sehr unterschiedliche Handlungsfähigkeit versprechen. Manche erlauben mehr gesellschaftliche Zugänge, andere schließen aus. Die Aneignung des kulturellen Kapitals, vermittelt durch bestimmte codierte Verhaltensweisen, fällt weniger leicht als ihr Erkennen und Analysieren - weil sie durch den Körper muss. Gleichzeitig ist dieser Körper, in den die Codes eingeschrieben sind, die gesellschaftlichen Zugang oder Ausschluss bedeuten, das einzige Werkzeug, mit dem die Codes verstanden werden können. Gefühle stehen nicht authentisch vor der wertenden Sozialität, sondern sind bereits codiert. Gleichzeitig müssen die eigenen Gefühle zunächst wahrgenommen werden, übersetzt, analysiert, ihre Bedeutung bewertet, differenziert und eventuell umcodiert. Gefühle werden Gegenstand von Arbeit. Bevor man sich in der Schlacht um eine Bedeutung, die man sich wie eine Identität angeeignet hätte, ihrer sicher sein könnte wie eines Besitzes, müsste man fürchten, von ihr besessen zu sein, angeeignet zu sein. Nur im Prozess, indem man sich selbst als eine stete, mediale Montage wahrnähme und entwürfe, wäre man relativ frei. Bevor die nächste Aneignung von Emanzipation in Konterrevolution umgeschlagen und sich als Falle erwiesen hätte. Der Aufschub der identitären Repräsentation fordert eine endlose, reflexive Maskerade.

Josef Kramhöller macht Performances, die er vorher auf Papier oder Leinwand skizziert. Nach der Performance notiert er Abweichungen und Ergänzungen. Die Bilder sind Teil des Prozesses der Einschreibung und Verkörperung des Künstlers im sozialen Feld der Kunst, das er als ein Modell innerhalb der Gesellschaft wahrnimmt. Er setzt die „eigene“ Bedeutungsproduktion in der Performance der Kommunikation aus - erprobt sie am anwesenden Publikum, den anderen Körpern, spürt wie es ankommt, spürt wie es sich anfühlt. Im dritten Schritt, wieder allein im Atelier, zeichnet er ins Bild, evaluiert die Veränderungen, die im kommunikativen Prozess der Performance gegenüber seiner Bedeutungsproduktion stattgefunden haben. Das Ergebnis ist ein medialer Prozess von Aneignung und Angeeignet Werden, Befremden und Anverwandlung. Der Körper ist Medium, Zeichen, ein Prozess der Verkörperung.

Kramhöller ist nicht bereit, Künstlertum und Kreativität aufzuführen als Lob neoliberaler Freiheit, diese Freiheit ist eine Falle. Eine Falle wie die Identität. „Die Kunst“ ist kein Freiraum, um von hier aus irgendwas darzustellen oder zu behaupten „über“ die Gesellschaft, sondern sie ist als Teil gesellschaftlicher Macht- und Produktionsstrukturen zu verstehen, diese aber immer reproduzierend: Kunstakademien dienen der „Produktion einer Massenbohéme“ - diese dient der (bloß) symbolischen Aufhebung von Klassenunterschieden, schreibt er in Genuss Luxus Stil:„sicherheitsdienste markieren die geburt einer neuen masse putzkolonnen schrubben sich durchs bewusstsein die neue masse war sauber und schön (...) techno war eins geworden mit der putzkolonne“

Eine Serie von Zeichnungen wiederholt das Porträt von Clara Schumann, das auf dem Hundert-Mark-Schein abgebildet war. Im aneignenden Prozess des Zeichnens der zu einem Wertsymbol - Geld, gewordenen Künstlerin wechseln Identifikation, Begehren und Reflexion der Künstlerrolle.

Neun Fingerabdrücke auf Schaufenstern von Luxuswarengeschäften, fotografisch dokumentiert. Im nächtlichen Zürich geht er von Schaufenster zu Schaufenster, mit einem Vaselinefinger sich einschreibend, das Glas vor den Waren markierend.

Das Medium aller vier Künstler ist Sprache - in einem semiotischen Sinn, in dem Repräsentationen nicht mehr eine bestehende, vorgängige Wirklichkeit darstellen und interpretieren, sondern in dem die Medien der Repräsentation als Sprache selbstbezüglich werden und das Reale herstellen. Der konzeptuelle und methodische Umgang der vier Künstler mit diesem gemeinsamen, neuen Paradigma und ihre Bewertung desselben ist ein je anderer. Die Ausstellung, zu der ein Katalog erscheinen wird, stellt die Unterschiede und Entsprechungen dieser Entwürfe von Repräsentationskritik vor, indem sie den Begriff der „Ökonomie der Bewertung“ entwickelt, der dazu dienen kann die Methode der Appropriation konzeptuell zu erweitern.